"Neue Berliner Illustrierte" 44/82
Hundertjährige mit großer Zukunft: Vorfahrt für die Straßenbahn
Ein Beitrag von Uwe Gerig
Am 15. Oktober des Jahres 1882 zuckelte die erste kleine Pferdestraßenbahn durch Halle. Hundert Jahre später befördern großräumige TATRA-Züge täglich rund 306 000 Fahrgäste. Das Liniennetz der Straßenbahn wird planmäßig erweitert. Vor der Jubiläumsfeier informierten wir uns über die Zukunftschancen des wichtigsten Nahverkehrsmittels der Saalestadt.
Halles Straßenbahn fährt immer. Tag und Nacht. Wer jemals im Interhotel am Verkehrsknoten Thälmannplatz logierte, kann das bestätigen. Polternde Züge treiben dem Gast dort auch zu später Stunde jedes Gefühl der Müdigkeit aus. Die lauten Launen sind einer Hundertjährigen offenbar nicht abzugewöhnen. Halles Bürger werten den permanenten Lärm der Alten verständnisvoll als Zeichen ihrer Vitalität und hören taktvoll weg, wenn´s auch schwerfällt. Missen möchten sie ihre Straßenbahn jedoch keinesfalls. Pünktlicher und billiger als mit dem schienengebundenen Nahverkehrsmittel kommt man weder frühmorgens zum Arbeitsplatz noch abends wieder nach Hause. Jeder Erwachsene, so versichern die Statistiker, benutzt es in Halle täglich zweimal. Die Metropole des Chemiebezirks gehört damit in der DDR zu den Städten mit den höchsten Beförderungsleistungen der Straßenbahn. Omnibusse, sie verkehren lediglich als Zubringer oder auf Kurzstrecken, und eine S-Bahn (14 Haltestellen), die seit 1967 schrittweise ausgebaut worden ist, komplettieren den Verkehrsverbund.
Halles geografischer Habitus ist mit dem einer ranken, hochgewachsenen Dame mittleren Jahrgangs zu vergleichen. Die Taille schmal (zwischen der Saale im Westen und dem Schienengewirr des Bahnhofs im Osten beträgt die minimale Entfernung 1200 Meter), obenherum (Industrie) üppig, unten (Wohnviertel) weit ausladend. Vom Stadtteil Trotha im Norden schlängeln sich alle Verkehrsverbindungen durch das Nadelöhr Zentrum Richtung Süden, wo in Ammendorf, Leuna und Buna die bekannten Chemieriesen stehen. Auch die Straßenbahnschienen folgen dieser Längsachse. Mit der Linie 5 kann man zum Beispiel von Nord nach Süd oder umgekehrt 32 Kilometer zurücklegen. Keine Straßenbahnlinie in der DDR ist länger als diese.
Die von vielen Stadtplanern lange Zeit mit Vehemenz vertretene Auffassung, Straßenbahnen erwiesen sich als Verkehrshindernisse, stand in Halle niemals zur Debatte. Im Gegenteil. Als anderswo Strecken stillgelegt und statt Bahnen Busse eingesetzt wurden, überarbeitete man im Rathaus der Saalestadt den Generalverkehrsplan und fällte eine die Zukunft bestimmende Entscheidung: Die Straßenbahn bleibt, sie wird weiterhin die Hauptlast des Nahverkehrs bewältigen.
Horst Weiser (41), seit 15 Jahren Stadtrat für Verkehr, sieht die Richtigkeit des damaligen Ratsbeschlusses heute in allen Punkten bestätigt. "Angesichts der komplizierter gewordenen Energieversorgung, aber auch im Hinblick auf den jährlich wachsenden Fahrgaststrom war unser Ja zur Straßenbahn schon damals ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft, und das ist es heute noch mehr. Es gibt zur Straßenbahn keine kostengünstigere Alternative."
Bernhard Kayser (62), Direktor der Verkehrsbetriebe Halle, nennt eindrucksvolle Zahlen, die die große Bedeutung der Straßenbahn für Halle unterstreicht. Mit den 11 Linien werden 196 Haltestellen bedient. In Spitzenzeiten (5 bis 7.30 Uhr und 14.30 bis 18 Uhr) passieren allein den Thälmannplatz pro Stunde 48 Züge in beiden Richtungen. Eine noch dichtere Zugfolge ist kaum denkbar. Die Durchlaßfähigkeit der Strecken ist ständig erhöht worden. Viel dazu beigetragen hat die Schaffung separater Bahnkörper, auf denen die TATRAs, unbeeinträchtigt vom Autoverkehr, mit großer Geschwindigkeit vorankommen. Die geräumigen, modernen Fahrzeuge können je Verband (2 Triebwagen und ein Beiwagen) maximal 420 Personen befördern. Welcher Bus wäre da konkurrenzfähig?
Wenn es um die Zukunft der Halleschen Straßenbahn geht, sprechen die Abgeordneten der Stadtverordnetenversammlung und natürlich auch die Einwohner ein gewichtiges Wort mit. Grundlage für gegenwärtige Diskussionen und zukünftige Entscheidungen sind Studien des Büros für Verkehrsplanung. So organisierten die Verkehrsplaner im Februar 1979 eine gut vorbereitete Umfrage bei Tausenden Fahrgästen der Straßenbahn, die genauen Aufschluß darüber gab, wie häufig die einzelnen Linien benutzt werden. Im Ergebnis dieser Untersuchung wurden Fahrpläne verändert und zusätzliche Züge entsprechend dem ermittelten Bedarf eingesetzt. Die Analysen ständig zu aktualisieren hat sich eine im Februar 1982 gebildete Arbeitsgruppe des Rates zum Ziel gesetzt. In diesem Gremium arbeiten Abgeordnete, Vertreter von Betrieben und Verkehrsexperten zusammen. Erstes Ergebnis ist ein der Stadtverordnetenversammlung vorgelegtes Konzept für die weitere Entwicklung des Nahverkehrs. Gegenwärtig wird es öffentlich diskutiert. 50 Hinweise sind bereits eingegangen. Sie beziehen sich vor allem auf gewünschte Veränderungen im Haltestellennetz und auf Verbesserungen der Anschlußmöglichkeiten. An der demnächst vom Stadtparlament zu beschließenden Vorzugsvariante für das künftige Liniennetz (8 Stammlinien mit einem Grundtakt von 10 Minuten und 3 Bedarfsverkehrslinien) wird mit Hilfe vieler Bürger im Detail noch weiter gearbeitet, damit sie später wirklich Vorzüge für viele bietet.
Seit Dezember 1981 können die Bewohner der Südstadt, ein großes Neubauviertel, mit der Straßenbahn ihre Wohngegend erreichen. Endlich, muß man sagen, denn das Verlegen des 3 Kiilometer langen Doppelgleises von der einstigen Endstelle durch den Böllberger Weg bis zur neuen Wendeschleife dauerte über Gebühr lange.
Günter Bernsdorf (43), Vorsitzender der ständigen Kommission Verkehrswesen der Stadtverordnetenversammlung, erinnert sich nur noch allzu gut an die vielen berechtigten Beschwerden der Bevölkerung. Zehntausende Mieter der neuen komfortablen Häuser erwarteten in den vergangenen Jahren mit Recht ein funktionierendes Beförderungssystem. Busse allein waren da überfordert. Die Straßenbahn mußte fahren! Bald. Doch Verantwortlichkeiten wurden hin- und hergeschoben, fehlende Kapazitäten als Ausrede benutzt und so kam der Bau nur schleppend voran. Erst als es, nicht zuletzt durch die Beharrlichlichkeit der Abgeordneten, gelang, die Arbeit besser zu koordinieren, und als jeder neue Termin zum Kampfziel erhoben wurde, verlief der Endspurt zügig. Aus solchen Erfahrungen haben alle gelernt. Das nächste, 2,9 Kilometer lange Teilstück Südstadt - Neubaugebiet "Silberhöhe" soll bis zum 31. Dezember 1982 fertiggestellt werden, spät zwar, aber noch nicht zu spät. Dann ist auch dort, wo inzwischen bereits mehr als fünfundzwanzigtausend Menschen wohnen, Schluß mit unzureichenden Verkehrsprovisorien; Busse bewältigen jetzt die Personenbeförderung mehr schlecht als recht. Wenn 1985 das nächste große Wohngebiet, Heide Nord, erschlossen wird, sollen die Bauarbeiter bereits per Straßenbahn zum Montageplatz fahren können. Ein lobenswerter Vorsatz.
Durch ihren relativ geringen Energieverbrauch und durch das große Fassungsvermögen bleibt die Straßenbahn wie in Halle auch in 26 anderen Städten der DDR das wichtigste Nahverkehrsmittel der Zukunft. Überall wird der Wagenpark (zur Zeit rollen in der DDR 2300 Triebwagen, 2200 Beiwagen und 390 Gelenkzüge) modernisiert. Die Zahl der beförderten Fahrgäste steigt (pro Jahr in der DDR 1,3 Milliarden Personen), doch unverändert bleiben die Fahrpreise. In Halle zum Beispiel zahlt man als Erwachsener seit 38 Jahren 15 Pfennig. Aus dem Staatshaushalt werden dem Verkehrsbetrieb für die Begleichung der tatsächlichen Ausgaben pro Jahr 46 Millionen Mark Subventionsgelder zur Verfügung gestellt. Die rüstige Hundertjährige wird auf diesen finanziellen Zuschuß auch künftig nicht verzichten müssen.
STRASSENBAHNCHRONIK
15. Oktober 1882 Offizielle Einweihung mit 12 einspännigen Pferdebahnwagen
1. Juli 1891 Elektrischer Betrieb auf allen Linien. Halle ist damit in Europa die erste Stadt mit elektrischem Straßenbahnnetz.
15. März 1907 Schafffner kassieren das Fahrgeld.
2. März 1917 Wegen des Krieges werden erstmals weibliche Straßenbahnfahrer beschäftigt.
24. November 1923 Eine Fahrt mit der Straßenbahn kostet 150 Milliarden Mark.
16. Mai 1945 Wiederaufnahme des Straßenbahnverkehrs nach dem Krieg.
1. Juni 1963 Einführung des schaffnerlosen Betriebes
16. August 1967 Inbetriebnahme der Gleisanlagen auf dem umgestalteten Thälmannplatz
27. August 1969 Die ersten TATRA-Triebwagen beginnen mit Probefahrten.
22. März 1980 Einführung des Entwertersystems auf allen Linien
Hoffentlich habe ich jetzt der geneigten Leserschaft nicht zuviel Text zugemutet, und das Interesse an weiteren Artikeln bleibt erhalten?!