"Hallesches Tageblatt" vom 25.09.1990
Vor dem Prüfstein Winterverkehr: Wie macht die HAVAG Halles Bahnen flott?
Die Bahn im Würgegriff der Autoschlangen[/size]
Halles Tatra-Straßenbahnzüge sind so schwer, daß sie die Gleise zerstören. Schienen selbst werden seit rund 20 Jahren im Inland nicht mehr hergestellt - wir bezogen minderwertige Ostblock-Ware, deren Schienenkopf nach zwei Jahren abgefahren ist. Kein Wunder also, daß die Straßenbahn kaum fahrplantreu verkehrt - Hallenser und ihre Gäste sie eher als unzuverlässiges Verkehrshindernis betrachten. Tageblatt informierte sich, wie die HAVAG Halles Bahn wieder flott kriegen will.
Fahrzeugpark
"Wir haben genau kalkuliert. Darum werden vorerst keine neuen Straßenbahnen gekauft, sondern gebrauchte. Außerdem wollen wir unsere Tatra-Bahnen modernisieren", erklärte Gerd Blumenau, technischer Vorstand. "Die erste Etappe stellen dabei die 40 GT 4-Wagen aus Stuttgart und Freiburg dar, die zwar gebraucht, aber von der technischen Ausstattung her Spitze sind."
So bald als möglich sollen sie in Halle rollen. Gestern fuhr das erste Exemplar aus Stuttgart zum ersten Mal im Linienbetrieb.
Einige der alten "Gleiszerstörungsmaschinen" der Marke Tatra, die zur Hauptuntersuchung fällig sind, werden modernisiert.
Zur neuen Innenaustattung, u.a. mit gepolsterten Sitzen und Kunststofftüren, wird auch eine automatische Beschallung gehören. Eine Dame vom Hessischen Rundfunk soll fortan per Tonband Haltestellen ansagen.
Das Erprobungsmuster der in Kooperation mit der AEG und der Gerätebau GmbH Mittenwalde zu modernisierenden Fahrzeuge soll den Hallensern noch in diesem Jahr vorgestellt werden.
Die Gleise
Allein für die Sanierung des gesamten Streckennetzes ist eine Summe von 100 Mio DM notwendig. Rund 20 Prozent des Streckennetzes - etwa 35 Kilometer - sind heute in einem betrieblichen Zustand, der Stuttgarter Fachleute zu dem erstaunten Ausruf hinriß, daß doch hier Bahnen "gar nicht mehr verkehren könnten".
Betriebssicherheit und ein geringer Geräuschpegel zugunsten der Anwohner - so lauten die neuen Maßgaben der HAVAG. Da ein völliger Ersatz der verschlissenen Schienen - besonders schlimm ist der Verschleiß beispielsweise in der 1982 (!) neuerbauten Kurve in der Straße der Weltjugend - nicht zu finanzieren ist, will man der Abnutzung nun u.a. mit neuen Verfahren begegnen. Beispielsweise ist die bundesdeutsche Firma Elektro-Thermit Essen mit bestimmten Schweißarbeiten in der Lage, Zugfestigkeit und Härte der Gleise ihrem Originalzustand anzunähern.
Ansonsten buddelt man wie gehabt. Derzeit noch am unteren Teil der Leninallee, der vorfristig Ende Oktober wieder zur Verfügung stehen wird. Außerdem sanieren momentan Gleisbauer der Romonta Montanbauwerke Röblingen Gleise am Böllberger Weg.
Einschränkungen
Zu umfangreichen Verkehrseinschränkungen für die Bevölkerung wird es auch in den nächsten Monaten kommen. Da die Leninallee früher fertig wird, können Sanierungsarbeiten in der Paul-Suhr-Straße ebenfalls zeitiger beginnen. Eine komplette Sperrung wird nicht nötig sein - die Bahnen verkehren eingleisig.
Ab 15. Oktober steht dann eine Sanierung der gesamten Südstadt und Silberhöhe ins Haus. In den Berufsspitzen verkehrt die Bahn - werktags von 8 bis 14 Uhr ist Schienenersatzverkehr.
Außerdem sollen noch in diesem Jahr Reparaturarbeiten in der Reilstraße, der Merseburger Straße und auf der Kröllwitzer Straße angegangen werden.
Erhebliche Einschränkungen werden sich dann im ersten Halbjahr ´91 einstellen: Vom Steintor bis zu den Kleinschmieden wird die Große Steinstraße komplett unter Berücksichtigung städtebaulicher Aspekte saniert. Dazu müssen einige Geschäfte geschlossen werden.
In einem zweiten großen Bauabschnitt wird dann die Paracelsusstraße einer Erneuerung unterzogen. So soll die berüchtigte Kurve auf Höhe Hollystraße begradigt werden.
Zur Lösung des Uraltproblems Haltestellen laufen im übrigen Verhandlungen mit der einheimischen Schloma GmbH, die auf der Basis eines bundesdeutschen Modells eine komplette Lösung mit kratz- und rowdyfesten Informationstafeln anbietet.
[size=150]Aussichten
Der HAVAG-Spielraum ist insofern größer geworden, als daß es jetzt möglich ist, alle Bauvorhaben auszuschreiben. So werden die kostengünstigsten und technisch machbarsten Varianten letzlich auch realisiert.
Neben der Finianzierung aus dem mageren Stadtsäckel - die HAVAG wird wohl lange noch ein defizitäres Unternehmen bleiben - werden Finanzierungsmodelle erarbeitet, die auch den Bund und die Länder in die Pflicht nehmen sollen. So sind Finanzierungen (bei 15% Beteiligung durch die Kommune) über das sogenannnte "Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz" denkbar.
Doch was sollen alle Lösunngsansätze, wenn eine zunehmende Auto-Blechlawine Halles Innenstadt überrollt?! Die Übermacht des motorisierten Individualverkehrs behindert Straßenbahnen mehr und mehr - die Rücksichtslosigkeit mancher Autofahrer tut ein übriges.
Extreme Beispiele sind die Lichtsignalanlage in der Trothaer Straße und die Freiimfelder Straße: Bahnen bleiben regelrecht im Autostau stecken.
Dazu kommt, daß territoriale Bedingungen für eine zuverlässige Straßenbahn wie "Park and Ride" oder weiträumige Umgehungsstraßen in Halle völlig fehlen. Außerdem werden ab 3. Oktober neue Vorfahrtsregeln gelten: Die Bahn hat dann nicht länger Vorrang.
Das grundlegende Problem löst man nicht mit einer bloßen Erweiterung der Verkehrswege. Will man in Halle eine umweltfreundliche Bahn behalten, wird man wohl nicht um die Durchsetzung einer autofreien Innenstadt umhinkommen.